![]() | Günter Frank Melanchthon und SkandinavienBilanz und Perspektiven der Forschung |
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Anders als die allgemeine Reformationsgeschichte Skandinaviens oder der Beitrag Martin Luthers bei Einführung und Durchsetzung der Reformation [1] ist die spezifische Bedeutung Melanchthons für Skandinavien in der frühen Neuzeit im vergangenen Jahrhundert nur zurückhaltend in den Blick geraten. Dies hängt – zumindest in Deutschland – mit der allgemeinen "Melanchthon-Vergessenheit" im 20. Jahrhundert als Folge der veränderten theologiegeschichtlichen und kirchenpolitischen Situation nach dem Ende des 1. Weltkrieges zusammen. Erst in der jüngsten Melanchthonforschung, wesentlich grundgelegt durch die gewaltige Briefedition der Melanchthon-Forschungsstelle der Heidelberger Akademie der Wissenschaften sowie der internationalen Forschungen des Melanchthonhauses in Bretten, ist nunmehr auch die eigentliche Perspektive "Melanchthon und Skandinavien", wenn auch eher reformationsgeschichtlich und kirchenpolitisch denn wissenschaftshistorisch, eigenständiger Forschungsgegenstand geworden. So fand unter der damaligen Leitung des Melanchthonhauses, Dr. Stefan Rhein, und des Direktors der Lutherhalle, Dr. Martin Treu, vom 15.-18. April 1993 in Wittenberg eine Tagung unter dem Thema "Melanchthon und Nordeuropa" statt. Aufgrund verschiedener Umstände sind die einzelnen Beiträge dieser Tagung erst jüngst publiziert worden. [2] Im Jubiläumsjahr 1997 selbst wurde vom 9.-10. Oktober von der Königlichen Akademie der Literatur, Geschichte und Altertümer in Stockholm eine eigene Tagung über Melanchthons Einfluß in Skandinavien gehalten. [3] Mein eigener Beitrag wird im Folgenden vor allem die Ergebnisse dieser jüngsten Melanchthonforschung vorstellen und diskutieren, die –nicht zuletzt auch aufgrund der späten Publikation der Tagungsergebnisse von 1993 – kaum Fortführung gefunden hat.
Der Einfluß Melanchthons auf Skandinavien war natürlich eng mit der Einführung der Reformation verknüpft. Was diesen reformationsgeschichtlichen Aspekt der Wirkungsperspektive Melanchthons auf Skandinavien anbelangt, sind es vor allem zwei institutionelle Umstände, die diesen Einfluß beförderten, und zwar 1. Melanchthons Wirkung in Skandinavien durch seine Schüler, und 2. sein Einfluß durch sein umfangreiches Schrifttum. Auch wenn dies bisher kaum grundsätzlich in den Blick der Forschung gerückt ist, es gibt genügend Anzeichen, daß Melanchthons Einfluß auf Skandinavien – neben den eher reformationsgeschichtlichen Zusammenhängen – auch für die allgemeine Wissenschafts- und Kulturgeschichte Nordeuropas in der frühen Neuzeit erheblich war. Zum Schluß dieses Beitrags sollen deshalb einige allgemeine Perspektiven für diese Wissenschafts- und Kulturgeschichte angedeutet werden. Melanchthon wird spätestens seit seinem Todesjahr 1560 der Ehrentitel Praeceptor Germaniae beigefügt. [4] Die jüngste europäische Melanchthonforschung belegt, daß ein solcher Ehrentitel viel zu kurz greift. Melanchthon war auch – und dies hat kein anderer als der verdienstvolle skandinavische Kirchenhistoriker Leif Grane formuliert – der Praeceptor Skandinaviae. [5]
Die wohl wichtigste, wenn auch sicherlich nicht einzige Vermittlung einer spezifischen Melanchthonrezeption in Skandinavien ergab sich durch die Einführung der Reformation, die sich durch die politischen Konstellationen der beiden skandinavischen Monarchien Schweden-Finnland und Dänemark-Norwegen-Island, seit 1397 in der Kalmarer Union unter der Personalunion des dänischen Königs zusammengeschlossen, nicht unerheblich unterschied. [6] Im berüchtigten "Blutbad von Stockholm" (November 1520) versuchte sich der dänische König Christian II. (1513-1523), seiner Gegner im schwedischen Adel zu entledigen, mit der Folge freilich, daß 1521 der junge Gustav Vasa zum Reichsvorsteher in Schweden ernannt wurde. Im Herbst diesen Jahres mußte die dänische Regierung das Land verlassen. Die Personalunion der skandinavischen Doppelmonarchie war damit faktisch zerbrochen. Die Herrschaft Christian II. mußte sich daher in der beginnenden Reformationszeit auf Dänemark, Norwegen und Island beschränken. Unter der Regentschaft seines Nachfolgers Friedrich I. (1523-1533) begann die Wittenberger Bewegung, in Dänemark Fuß zu fassen. Mit Christian III. (1534-1559), der Luther in Worms erlebt hatte, wurde die Neuordnung der dänischen Kirche nach der evangelischen Lehre vollzogen. Unter Mitwirkung des pommerschen Reformators Johannes Bugenhagen konnte 1539 die gesetzliche Grundlage dieser Neuordnung, die "Kirchenordinanz", vom Reichsrat ratifiziert werden. [7] Noch im gleichen Jahr billigten die mit dänischen Landsmännern durchsetzten Herrenversammlungen in Bergen und Oslo die dänische "Kirchenordinanz". Diese "Kirchenordinanz" blieb bis 1683 in Geltung und schuf eine lutherische Landeskirche unter der Leitung des Königs. Gleichzeitig wurde im selben Jahr 1539 die sogenannte "Fundatio" verabschiedet, welche die Grundlage für die erneuerte Universität in Kopenhagen bildete. [8] Die Universität Kopenhagen wurde die wichtigste Bildungseinrichtung für die Ausbreitung der evangelischen Lehre in Skandinavien.
In der Kirchenordinanz wurde in einer kurzen Liste festgehalten, welcher Bücher ein Pfarrer nicht entbehren durfte. Neben der Bibel, der Postille Luthers und einer nicht näher beschriebenen "guten" Erklärung des Katechismus wares es folgende Werke: die "Apologia Philippi", also das "Augsburgische Bekenntnis", worin die gewisse Lehre des Christentums bestätigt und bewiesen wird, Melanchthons "Loci communes" und die "Instructio visitationis Saxonica", d.h. Bugenhagens lateinische Übersetzung des "Unterrichts der Visitatoren" Melanchthons, den dänischen Pfarrern zugeeignet.
Auch die Neuordnung der Universität Kobenhagen, die ebenso für norwegische Studenten gedacht war, wurde nach dem Wittenberg Modell vorgenommen, d.h. in Übereinstimmung mit den Regelungen Melanchthons von 1536. In allen Fächern der Artesfakultät wurden die Bücher Melanchthons empfohlen. Auch in der theologischen Fakultät war sein Einfluß über Vorlesungen über die "Loci communes", also der ersten Theologie der Reformation, gesichert. Viele Katechismen zeigten darüber hinaus eine bleibende Präsenz der Theologie Melanchthons, so etwa die "Margarita theologica" des Johann Spangenberg, ein Kompendium aus den "Loci communes", die seit der Neuauflage von 1535 "Loci theologici" hießen. Der Einfluß Melanchthons in Dänemark und an der Universität Kobenhagen war jedoch nicht nur auf die Lehrordnung und die Verwendung der Bücher Melanchthons beschränkt. Viele Studenten der ersten Generation der Reformation in Dänemark hatten in Wittenberg, und. d.h. auch unter Melanchthon studiert. Bis 1536 lassen sich über 80 dänische Immatrikulationen in Wittenberg belegen, unter anderem auch der "dänische Luther" Hans Tausen (1494-1561). Für das gesamte 16. Jahrhundert haben etwa 175 von insgesamt 600 Dänen den Magistergrad in Wittenberg erhalten. Leif Grane hatte bei diesen Studenten in Wittenberg schon vor dem Tode Luthers auf den auffallenden Umstand verwiesen, wie sehr sie Melanchthon als ihren Lehrer verehrten. "Luther wird mit Verehrung erwähnt, aber als ihren eigentlichen Praeceptor nennen sie Melanchthon." [9]
Die wichtigsten dänischen Reformatoren waren Melanchthon-Schüler oder Melanchthon sehr nahe stehende Theologen. Gelehrte wie Johannes Machabäus und Peder Palladius von der theologischen Fakultät in Kobenhagen fühlten sich in Übereinstimmung mit Melanchthon. Zum Ende seines Lebens 1560 publizierte Palladius eine Reihe theologischer Arbeiten in Wittenberg, die wahrscheinlich Melanchthon besorgt hatte und zu denen er Vorworte schrieb. Peter Hegelund (1542-1614), ein Theologe der zweiten Generation, hielt Vorlesungen über Melanchthons "Examen ordinandorum". Auch der bedeutendste Theologe seiner Zeit in Dänemark, Niels Hemmingsen, war ein Schüler Melanchthons. Die meisten seiner Schriften wurden in vielen Auflagen in Wittenberg oder in Leipzig verlegt. Nach dem Ausbruch der kryptocalvinistischen Auseinandersetzungen in Sachsen wurde er jedoch 1597 – mit dem Vorwurf des Philippismus - vom Dienst suspendiert und zog sich nach Roskilde zurück. Durch seine Schüler blieb jedoch Hemmingsen und damit auch Melanchthon präsent: "Bis zum Sieg der Orthodoxie am Anfang des 17. Jahrhunderts blieb die Schule Melanchthons und Hemmingsens dominierend, in der Theologie allherrschend." [10]
Anders als in Dänemark-Norwegen ist der unmittelbare Einfluß Melanchthons auf Island durch einen eigenen Schülerkreis aufgrund fehlender historischer Dokumente nicht zu belegen. [11] Die für die Geschichte der Reformation in Island nach ihrer gewaltsamen Einführung durch den dänischen König Christian III. wichtigen Theologen aus der südlichen Diözese Skálholt Oddur Gottskálksson (†1556), Gissur Einarsson (†1548), Gísli Jónsson (†1587), Marteinn Einarsson (†1576) und – aus der nördlichen Diözese Hólar – Ólafur Hjaltason (†1569) hatten alle auf dem Kontinent studiert. Wann und wo sie mit der reformatorischen Bewegung in Berührung kamen, ist nicht belegt. Jedenfalls waren ihnen die Schriften Melanchthons bekannt und gerade über sein Schrifttum sollte Melanchthon der bedeutendste Reformator in Island werden. Darauf wird noch zurückzukommen sein.
Wieder greifbar und an Intensität noch deutlicher war die Bedeutung des Schülerkreises Melanchthons für die Reformation im anderen Teil der ehemaligen dänischen Doppelmonarchie, in Schweden und Finnland. [12] Dieser Umstand hing auch mit der Situation der Universitäten zusammen, die insgesamt erst ziemlich spät in Skandinavien Einzug hielten. Die erste Universität wurde 1477 in Uppsala gegründet, zwei Jahre später erfolgte die Universitätsgründung in Kopenhagen. Die Zeit der Reformation war für die Universität Uppsala eine Zeit des Niedergangs. In den 20-er Jahren wurde sie geschlossen. Diese späte Gründung bedeutete schon für das Mittelalter, daß Studenten auf den Kontinent ziehen mußten, wenn sie studieren wollten, so vor allem nach Bologna, Paris, Prag, Leipzig und Erfurt. Gegen Ende des Mittelalters waren es dann vornehmlich die neu gegründeten Universitäten an der Ostsee wie Rostock (gegründet 1419) und Greifswald (gegründet 1432), die sich zum Studium anboten. An der 1502 gegründeten "Leucorea" in Wittenberg schrieb sich als erster Schwede Peder Bransk, Neffe des letzten großen Bischofs der alten Kirche, Hans Bransk (Bischof von Linköping 1513-1527), im Wintersemester 1515 ein. Genauso wie der eigentliche Reformator Schwedens, Olaus Petri (Pedersson, 1493-1552), der seit dem Sommersemester 1516 in Wittenberg studierte, gehörte Peder Bransk nicht zum Schülerkreis Melanchthons. Zu seinem eigentlichen Schülerkreis gehörten dennoch fast 100 schwedisch-finnische Studenten. Ihre Karriere belegt, welche große Bedeutung die Melanchthon-Schule für die Etablierung einer künftigen evangelischen Bildungselite in Schweden-Finnland besaß. Von den einzelnen Studenten sind folgende Karrieren bekannt: [13]
Bischof oder Superintendent 16
Domherr 5
Schulmeister 7
Pfarrer 13
Staatsbeamter 10
Eine Vielzahl von Melanchthonschülern finden sich in der Folgezeit auf schwedisch-finnischen Bischofsstühlen:
Uppsala
1531-1573 Laurentius Petri Nericius
1573-1579 Laurentius Petri Gothus
Västerås
1536-1562 Botvidus Sunonis
1564-1574 Johannes Nicolai Ofeegh
1575-1580 Ericus Nicolai Arbogensis
Skara
1548-1557 Ericus Falck
1561-1570 Ericus Nicolai Niger
Åbo
1554-1557 Michael Agricola
1563-1575 Paulus Juusten
1579-1583 Henricus Canuti
Wiborg
1554-1563 Paulus Juusten
1563-1564 Canutus Johannis
1568-1580 Ericus Herkepaeus
Strängnäs
1556-1561 Ericus Nicolai Niger
1563-1585 Nicolaus Olai Helsingius
Lingköping
1558-1570 Ericus Falck
1571-1580 Marinus Olai Gestricius
Zwei Namen aus dem Kreis der schwedisch-finnischen Melanchthonschüler verdienen eine eigene Erwähnung: Georg Norman und Paulus Juusten, der "Melanchthon Finnlands". Norman, geboren auf Rügen und 1538 in Wittenberg promoviert, kam auf Empfehlung Luthers und Melanchthons in einer politisch brisanten Situation nach Stockholm. Von Gustav Vasa hieß es, daß er die unangenehme Angewohnheit besaß, seine besten Berater zu Tode zu verurteilen, so z.B. Conrad Peutinger, seit 1538 Kanzler des schwedischen Königs, der wegen angeblichen Hochverrats inhaftiert worden war und im Gefängnis starb. Deshalb war es schwer, einen königlichen Berater zu finden, der die kirchlichen Angelegenheiten im Reich besorgen konnte. Diese Funktion sollte Norman ausüben. 1539 kam Norman nach Stockholm und versuchte, die alte kirchliche Ordnung in ein landesherrliches Kirchenregiment umzuwandeln. Norman wurde die Stimme Melanchthons in Schweden. In seiner Kirchenordnung von 1540 berief er sich vorwiegend auf Melanchthon, insbesondere auf die "Loci theologici" des Jahres 1535. Luther wird hingegen überhaupt nicht erwähnt. Als Erzieher des Prinzen, des späteren Königs Erik XIV., legte er diesem Melanchthons "Catechesis puerilis" in die Hände. Erik selbst besaß auch noch andere Werke des Wittenberger Reformators, die "Enarratio symboli niceni" von 1551 und die "Responsiones ad impios articulos Bavaricae inquisitionis" von 1559. Übrigens hatte Melanchthon selbst dem jungen Kronprinzen sein "Chronicon Carionis" zugeschickt, eine der einflußreichsten Schriften auch in Skandinavien.
Paulus Juusten, der "Melanchthon Finnlands", hatte von 1543-1546 in Wittenberg studiert. Über seine damaligen Studien berichtete er später: "Damals gab es in Wittenberg gelehrte Männer in allen Fächern, Herrn Doktor Luther, Pomeranus, Philippus, Cruciger, Major, Paul Eber und Erasmus Reinhold. Er (Juusten) hörte diesen zu, als sie wichtige Fragen behandelten. So festigte sich seine Auffassung über viele Kontroversen des christlichen Glaubens, und er erlangte eine bessere Kenntnis und Übung in den humanistischen Wissenschaften." [14] 1554 wurde Juusten Bischof des neugegründeten Bistums Wiborg.
Anders als die Bedeutung Melanchthons für Skandinavien, wie sie sich aus seinem weit verbreiteten Schülerkreis ergeben hatte, ist die Rezeption seiner wissenschaftlichen Schriften in seinen historischen und systematischen Strukturen nur in Ansätzen untersucht worden. Daß Melanchthons Lehrbücher zur Theologie, Anthropologie, Naturphilosophie, Ethik, Dialektik und Rhetorik auch in Skandinavien verbreitet waren und gelesen wurden, ist schon in einigen Hinweisen deutlich geworden. Diese Tatsache vervollständigt jenes Bild der jüngsten Forschung, die Melanchthon als einen Gelehrten europäischen Ranges dokumentieren konnte. [15] An zwei Lehrtraditionen soll diese Rezeption in Skandinavien näher skizziert werden: dem Einfluß des "Chronicon Carionis" in Island [16] und dem Nachwirken der Schriften Melanchthons zur praktischen Philosophie des Aristoteles in Finnland [17] .
Die Chronik des Weltzeitalters des aus Bietigheim stammenden brandenburgischen Hofastrologen Johannes Carion (1499-1537/38) [18] , die Melanchthon überarbeitet und 1532 ediert hatte, strukturierte das Weltzeitalter einerseits nach apokryphen Sprüchen, welche die Welt in 6000 Jahre teilte, je 2000 Jahre der Öde, des Gesetzes und des Messias, und andererseits nach der Vier-Weltreiche-Lehre gemäß Daniel 2 und 7. Mitte der fünfziger Jahre des 16. Jahrhunderts hatte Melanchthon mit einer Überarbeitung der lateinischen Chronik begonnen. Der erste Band des überarbeiteten "Chronicon Carionis" erschien 1558 und umfaßte die Zeit von der Welterschaffung bis zur Herrschaft des Kaisers Augustus. Der zweite Band, der 1560 noch zu Lebzeiten Melanchthons erschien, reichte bis zu Karl dem Großen. Der Schüler und Schwiegersohn Melanchthons, Capar Peucer, übernahm nach dessen Tod die Edition der weiteren Bände. 1565 war das fünfbändige Werk abgeschlossen. 1572 erschien die erste lateinische Gesamtausgabe des "Chronicon Carionis". Die Melanchthon-Peucer-Weltzeit-Chronik ist in vielen Neuausgaben wieder aufgelegt und in verschiedene Nationalsprachen übersetzt worden. Reges Interesse fand das "Chronicon Carionis" auch in Island.
Der isländische Bischof Gissur Einarsson hatte schon 1540 in Hamburg die "Chronicam magistri Joannis Carionis" gekauft. [19] Zwei Jahre später erwarb er in Kopenhagen die "Cronica Joannis Carionis". Es ist nicht klar, um welche Ausgaben es sich bei diesen beiden Exemplaren handelt, klar ist jedoch, daß es schon 1542 zwei Exemplare des "Chronicon Carionis" in Island gab. 1574 schrieb der Bischof in Hólar Gud brandur Þorlákson an seinen dänischen Kollegen Poul Madsen mit der Bitte, ihm einige Bücher zukommen zu lassen, unter ihnen auch das "Chronicon Carionis Philippi", also die Melanchthon-Peucer-Version der Weltzeitchronik. Arngrímur Jónsson (1568-1648) hatte daher möglicherweise schon in seiner Jugendzeit in Hólar die Weltzeitchronik kennengelernt. In seiner eigenen Schrift des Jahres 1596 "Rerum Danicarum Fragmenta" finden sich jedenfalls vielfach direkte Hinweise auf die Melanchthon-Peucer-Version des "Chronicon Carionis". Aber auch in Isländisch verfaßten Schriften finden sich direkte Hinweise auf diese Weltzeitchronik, so in der 1692 verfaßten "Ur Chronicon Johannis Carjonis. Nockud med faestum ordum saman skrifad wr dönsku", einer isländischen Version einer dänischen Übersetzung der Chronik, die auf über mehr als 90 Folioseiten direkt Material aus dem "Chronicon Carionis" entlehnen. Urkunden aus dem 18. Jahrhundert zufolge, soll diese Übersetzung der isländische Pfarrer Þórd ur Sveinsson (1623-1667) vorgenommen haben. Sie belegt, daß Melanchthons "Chronicon Carionis" noch bis in das 18. Jahrhundert in Island reges Interesse fand. Dies belegt auch die isländische Dichtung. Das Gedicht "Einvaldsód ur" des Gud mundur Erlendsson (1595-1670), geschrieben im Jahr 1658, das aus 307 Strophen besteht, bezieht sich als Quelle neben dem dänischen Buch "Dialogus" hauptsächlich auf das "Chronicon Carionis". Noch zwei weitere isländische Geschichtsschreibungen belegen das Interesse an Melanchthons "Chronicon Carionis" noch im 18. Jahrhundert, die sogenannten "Sjávarborgarannáll" des Þorlákur Markússon (1692-1736), eine isländische Geschichtsschreibung für die Zeit von 800 bis 1729, die an einigen Stellen direkte Anleihen an das "Chronicon Carionis" macht, und eine weitere Handschrift aus den Jahren zwischen 1727 bis 1750, die auf 37 Seiten eine gekürzte Übersetzung der dänischen Chronicon-Version von 1595 bietet.
Melanchthons Schriften zur praktischen Philosophie des Aristoteles, also die Ethik und Politik, sind bisher in ihrem Umfang und in ihren systematischen Konturen kaum hinreichend untersucht worden. [20] Zwar gibt es einige neuere Untersuchungen zur Ethik Melanchthons, so neben den Studien von Henning Ziebritzki [21] und Risto Saarinen [22] die historischen Darstellungen der Ethik-Tradition bei Jill Kray [23] und Heinz Scheible [24] . Dabei steht die Melanchthonforschung vor einer doppelten Forschungsperspektive: auf der einen Seite muß sie die Traditionsgeschichte der verschiedenen Bearbeitungen zur Ethik und Politik Melanchthons historisch und systematisch in den Blick nehmen. Möglicherweise hatten gerade diese Schriften den größten Erfolg im 16. Jahrhundert. Mittlerweile sind mindestens 52 Bearbeitungen und Neuauflagen der Schriften zur Ethik und Politik für dieses Jahrhundert belegt. Auf der anderen Seite steht die Forschung vor der Situation, daß im 16. Jahrhundert überhaupt mehr Kommentare zur aristotelischen praktischen Philosophie publiziert wurden, mehr als in den gesamten tausend Jahren zuvor. Aufgrund der bibliographischen Studien von Charles Lohr sind für diese Zeit mindestens 128 Schriften zur Ethik und Politik belegt. Für das 16. Jahrhundert haben wir es also mit einer zweiten und noch größeren Welle der Wiederaneignung der praktischen Philosophie des Aristoteles zu tun, die an Umfang und Intensität die erste Welle im 13. und 14. Jahrhundert bei Weitem übertrifft. Wir finden hier also eine Art ethisch-politischer Grundsatzdiskussion, die über alle Konfessionsgrenzen hinweg festzustellen ist, die in der Forschung jedoch noch nicht einmal im Ansatz untersucht worden ist. Zweifellos war Melanchthon – und das kennzeichnet den Erfolg seiner Schriften zur Ethik und Politik – führend in diesen Diskussionen.
Vor diesem historischen Hintergrund muß auch das Nachwirken der praktischen Philosophie Melanchthons in Finnland gesehen werden, das Risto Saarinen in seiner Studie aus dem Jahr 2001 vorgestellt hat, freilich unter dem systematischen Leitbegriff des heroischen Tugendbegriffs in der protestantischen Ethik, den Saarinen als eines der Hauptthemen in der frühen protestantischen Ethik identifiziert, das vor allem deshalb erklärungsbedürftig erscheint, weil weder eine Heiligenverehrung noch die scholastische Tugendlehre, die im Kontext der aristotelischen Habituslehre entwickelt worden war, für die reformatorische Theologie annahmbar war. Melanchthon jedenfalls – so die Untersuchung von Saarinen – hat ausdrücklich den Begriff der "heroischen Tugend" aufgegriffen und diesen nicht nur auf die antiken und biblischen Helden, sondern ebenso auf die künstlerische und intellektuelle Tugend bezogen. Dieses Lehrstück wurde eines der wichtigsten Themen der 1640 gegründeten finnischen Universität in Turku, an der in den ersten Jahrzehnten eine Reihe von Publikationen erschienen, die ausdrücklich das Thema der heroischen Tugend explizierten. So veröffentlichte der erste Professor für praktische Philosophie Michael Wexionius (1609-1670), der in Uppsala und u.a. in Wittenberg bei Jakob Martini studiert hatte, 1646 sein moralphilosophisches Hauptwerk "Philosophiae moralis pars prior" sowie 1649 sein "Collegium Ethicum". Wie Saarinen belegt hat, lehnte sich Wexionius an die zentralen Lehrstücke Melanchthons an wie die Lehre von der göttlichen Inspiration, die Einsicht, die wahre heroische Tugend sei nur bei frommen Christen vorhanden und die Erkenntnis, daß auch die intellektuellen Fähigkeiten heroisch genannt werden können. Auf diese Weise seien auch die wesentlichen Einsichten Melanchthons auf den finnischen Unterricht übertragen worden. Auch die 1648 publizierte Dissertation von Johan Wassenius (1622-1691) "De virtute heroica" orientierte sich ganz an Melanchthons richtungsweisenden Überlegungen zur heroischen Tugend in den "Philosophia moralis epitomes".
Versuchen wir eine Bilanz: Melanchthon war über seinen Schülerkreis eine überragende Gestalt im prostestantischen Skandinavien, möglicherweise dominierender als Luther selbst. Seine Schriften zu nahezu allen wissenschaftlichen Disziplinen waren begehrt und wurden bis weit in das 18. Jahrhundert hinein gelesen. Seine wichtigsten theologischen Schriften, die "Loci communes" wie die "Confessio Augustana", wurden – wie in anderen Ländern auch – bekenntnisbildend und die politische Grundlage für die entstehenden evangelischen Landeskirchen in Skandinavien. Für die Kultur- und Wissenschaftsgeschichte Skandinaviens ist Melanchthons Beitrag – anders als in der Reformations- und Kirchengeschichte – vergleichsweise wenig untersucht worden, mit Ausnahme der jüngsten Beispiele von Sigudur Pétursson über die Rezeption der Melanchthon-Peucer-Version der Weltzeitalter-Chronik in Island und Risto Saarinens Untersuchung über den Tugendbegriff im akademischen Unterricht an der finnischen Universität Turku. Blickt man auf die jüngsten Veröffentlichungen zur Melanchthonforschung – und der in Kürze erscheinende 2. Teilband "Westeuropa" wird dies für die romanischen Länder, für die Niederlande und den angelsächsischen Raum ergänzend bestätigen -, so wird man einräumen müssen, daß selbst der von Leif Grane auf Melanchthon als "Praeceptor Scandinaviae" applizierte Ehrenbegriff zu kurz greift: Melanchthon war weitgehend der "Praeceptor Europae".
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[1] Eine hilfreiche Literaturübersicht findet sich bei E. Iserloh, Europa im Zeichen des Pluralismus der Konfessionen, Kap. 25: Die Reformation in den nordischen Ländern, in: HKG 4 (1985) 313-324; bes. 313f.
[2] G. Frank, M. Treu (Hg.), Melanchthon und Europa. 1. Teilband: Skandinavien und Mittelosteuropa, Stuttgart 2001, 11-155 (Melanchthon-Schriften der Stadt Bretten 6/1); fortan: Europa 1.
[3] B. Stolt (Hrsg.), Philipp Melanchthon und seine Rezeption in Skandinavien, Stockholm 1988.
[4] Hier muß das historische Urteil von Theodor Mahlmann korrigiert werden, der für den Ehrentitel Praeceptor Germaniae erst einen ziemlich späten Beleg vorlegt. Vgl. Th. Mahlmann, Die Bezeichnung Melanchthons als Praeceptor Germaniae auf ihre Herkunft geprüft. Auch ein Beitrag zum Melanchthon-Jahr, in: Melanchthonbild und Melanchthonrezeption in der Lutherischen Orthodoxie und im Pietismus. Referate des dritten Wittenberger Symposiums zur Erforschung der Lutherischen Orthodoxie (hrsg. von U. Sträter), Wittenberg 1999, 135-226 (Themata Leucoreana 5). Vorsichtiger hierüber M. Wriedt, Pietas et Eruditio. Zur theologischen Begründung der bildungsreformerischen Ansätze bei Philipp Melanchthon unter besonderer Berücksichtigung seiner Ekklesiologie, in: Dona Melanchthoniana (FS Heinz Scheible), Stuttgart – Bad Cannstatt 2001, 501-520; hier bes. 501, Anm. 1-4. Nachweisbar ist der Titel Praeceptor Germaniae jedoch in einer Gedichtsammlung zu Ehren Melanchthons aus dessen Todesjahr von Remigius Wasomburg, Cardanus Parcus und Samson Hamiochius, Fama posthuma reverendi et clarissimi viri domini Philippi Melanchthonis, Europae Phoenicis, communis bonorum omnium Praeceptoris, Frankfurt 1560 (dort findet sich auf S. 3 der Hinweis auf Melanchthon als "communis Germaniae Praeceptor"). Vgl. hierzu auch die Hinweise bei G. Schwinge, Melanchthon in der Druckgraphik. Eine Auswahl aus dem 17. bis 19. Jahrhundert (hg. von G. Frank), Ubstadt-Weiher 2000, 45.
[5] Melanchthons prägender Einfluß auf die Reformation in den skandinavischen Ländern, in: Europa 1, 11-26; hier: 26.
[6] Vgl. zum Folgenden ebd., und E. Iserloh (wie Anm. 1) 313-317.
[7] M. Schwarz Lausten (Hrsg.), Kirkeordinansen 1537/1539, København 1989.
[8] Fundatio et ordinatio universalis schole haffniensis (1539), in: W. Norvin, Københavns Universitet i Reformations og Orthodoxiens Tidsalder, Bd. 2, København 1940, 9-70.
[9] L. Grane (wie Anm. 4) 18.
[10] Ebd. 21.
[11] Vgl. zum Folgenden ausführlich S. Pétursson, Melanchthon in Island, in: Europa 1, 117-127.
[12] Ausführlich hierzu S. Heininen, Die schwedischen Schüler Melanchthons, in: Europa 1, 91-99; über Finnland im Zusammenhang mit der seit Melanchthon neu bearbeiteten aristotelischen Ethik finden sich einige Hinweise bei R. Saarinen, Die heroische Tugend in der protestantischen Ethik. Von Melanchthon zu den Anfängen der finnischen Universität Turku, in: ebd., 129-138; hier bes. 136-138.
[13] Vgl. zum Folgenden die Tabellen bei S. Heininen (wie Anm. 11) 94-98.
[14] Zitiert nach S. Heininen (wie Anm. 11) 98f.
[15] Neben den einzelnen Beiträgen des Sammelbandes "Melanchthon und Europa. 1. Teilband: Skandinavien und Mittelosteuropa" sei hier im Blick auf England, Frankreich, die Niederlande und die USA verwiesen auf: G. Frank, K. Meerhoff (Hrsg.), Melanchthon und Europa. 2. Teilband: Westeuropa, erscheint: Stuttgart 2001 (Melanchthon-Schriften der Stadt Bretten 6/2); für das damalige Ungarn sei auch verwiesen auf die ungarische Ausgabe des Ausstellungs-Katalogs "Briefe für Europa" (hrsg. von S. Rhein, neu ediert von G. Frank), Budapest 1999.
[16] Ausführlich hierzu S. Pétursson (wie Anm. 10) 117-129.
[17] Vgl. hierzu auch die Hinweise bei R. Saarinen (wie Anm. 11) 129-138.
[18] Vgl. zum Folgenden ausführlich, mit vollständiger Forschungsliteratur K. Ohr, B. Bauer, Historiographie, in: Melanchthon und die Marburger Professoren (1527-1627) (hrsg. von B. Bauer), Marburg 1999, 197-261 (2. Auflage 2000).
[19] Zu den einzelnen Belegen vgl. S. Pétursson (wie Anm. 10) bes. 123-125.
[20] Vgl. zum Folgenden auch die Diskussion bei G. Frank, Philipp Melanchthon als Universalgelehrter des 16. Jahrhunderts. Bilanz und Perspektiven der Forschung, in: Dona Melanchthoniana (FS Heinz Scheible), Stuttgart 2001, bes. 116-118.
[21] Tugend und Affekt: Ansatz, Aufriß und Problematik von Melanchthons Tugendethik, dargestellt anhand der "Ethicae doctrinae elementa" von 1550, in: Der Theologe Melanchthon (hrsg. von G. Frank), Stuttgart 2000, 357-373 (Melanchthon-Schriften der Stadt Bretten 5).
[22] Vgl. Anm. 11, 129-138.
[23] Melanchthons ethische Kommentare und Lehrbücher, in: Melanchthon und das Lehrbuch des 16. Jahrhunderts (hrsg. von J. Leonhardt), Rostock 1997, 195-214.
[24] Melanchthon. Eine Biographie, München 1997.
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Autor (author): Günter Frank
Dokument erstellt (document created): 2002-08-13
Dokument geändert (last update): 2002-08-20
WWW-Redaktion (conversion into HTML): Manuela Kahle & Stephan Halder
Schlussredaktion (final editing): Heinrich C. Kuhn