Vivat Germania latina, Vivat Latinitas teutonica!

Konrad Benedikt Vollmann

Deutsch und Latein in der spätmittelalterlichen Naturkunde



Das Thema "Deutsch und Latein in der spätmittelalterlichen Naturkunde" scheint sich nur mühsam in den Rahmen dieses Kongresses zu fügen. Zwar steht im deutschen Untertitel des Programms "Politik, Wissenschaft, humanistische Kultur vom späten Mittelalter bis in unsere Zeit", aber was mit "spätem Mittelalter" eigentlich gemeint ist, verdeutlicht die lateinische Übersetzung Vita publica, scientiae, studia humaniora a litteris renatis usque ad saeculum nostrum. Das zentrale Anliegen der Tagung ist die neue Zeit und ihre Humanisierung durch die Latinitas, nicht das Mittelalter, das selbstverständlich auch nördlich der Alpen ganz wesentlich von der lateinischen Sprache geprägt wurde, aber eben in anderer Weise als dies seit der Epoche der renatae litterae, der Renaissance, der Fall war. Das Prekäre meines Themas wird noch deutlicher, wenn ich eingestehe, mich auf Hildegard von Bingen als Hauptzeugin zu stützen, die in der Mitte des 12. Jahrhunderts schrieb, in der Blütezeit des hohen, nicht des späten Mittelalters und unberührt von Ideen und Zielvorstellungen des Humanismus.

Dennoch glaube ich, das Thema rechtfertigen zu können. Zum einen, weil ich mich nicht so sehr mit Hildegard selbst befasse, sondern mir ihrer Rezeption im Spätmittelalter und in der frühen Neuzeit, und zum anderen, weil sich an der Naturkunde modellhaft ein umfassenderer Begriff von Germania latina aufzeigen lässt, der zwar die studia humaniora einschließt, aber sich nicht in ihnen erschöpft.

Ich gehe so vor, dass ich in einem ersten Schritt das einschlägige Belegmaterial ausbreite, dieses dann in einem zweiten Schritt evaluiere, um zuletzt einige Schlussfolgerungen für die Gegenwart zu ziehen.

1. Der Befund

Hildegards medizinisch/naturkundliches Werk 'Liber subtilitatum', bestehend aus den zwei Teilen 'Physica' und 'Causae et curae', entstand zwischen 1151 und 1158. Beide Schriften sind nur in später Überlieferung auf uns gekommen. Zwei der 'Physica'-Handschriften, die das gesamte Korpus enthalten, wurden um 1300 geschrieben, - sie liegen heute in Wolfenbüttel [1] und Florenz [2] ; zwei weitere, ein Parisinus (Bibl. Nat., lat. 6952) und ein Vaticanus (Bibl. Apost. Vat., Ferrajoli 921) datieren um 1450. Zudem kennen wir zwei Bearbeitungen, eine handschriftliche (Brüssel 2551, geschrieben ebenfalls um 1450) und eine gedruckte (Straßburg 1533 [3] ) sowie eine Teilhandschrift (Freiburg i.B., UB, Hs. 178a), die nur das Steinbuch enthält und bald nach 1400 entstand. Die Datierungen sind für unsere Fragestellung wichtig, weil sich zeigen wird, dass das Verhältnis Deutsch-Latein in den 'Physica'-Handschriften Veränderungen unterworfen war, die an deren Entstehungszeit gekoppelt sind.

Beginnen wir mit dem Ausgangspunkt, mit Hildegard. Hildegard mischte in ihren lateinischen Text häufig deutsche Ausdrücke ein, sei es für Körperteile (wie lendene "Lenden", scheidele "Scheitel"), sei es für Krankheiten (wie ridde "Wechselfieber", dizedo "Tinnitus", schelmo "Rinderpest"), sei es für Pflanzen (wie storka­snavel "Storchschnabel", beneuelle "Beinwell") und tierische Produkte (wie anxsmero "Butterschmalz"), sei es für Zubereitungsformen (wie wellen "erhitzen", zulazen "auslassen, schmelzen", beizen "beizen"), sei es für Arzneiformen (wie luterdranc "Gewürztrank", suffen "Brühe", kuchelen "Küchlein").

Die deutschen Termini sind in den älteren Textzeugen häufig; so weist etwa allein das 'Buch von den Bäumen' in der Florentiner Handschrift an 370 Stellen deutsche Wörter auf. Auch die späten Handschriften Paris 6952 und Vatikan Ferrajoli 921, die auf eine gemeinsame, äußerst konservative Vorlage zurückgehen, sind durchsetzt mit volkssprachigen Vokabeln. Man kann sich davon überzeugen, wenn sich man den 'Physica'-Druck in Mignes Patrologia Latina, Bd. 197, Spalte 1117-1352, ansieht, für den der Parisinus die Vorlage bildete. (Der Migne-Text ist allerdings mit Vorsicht zu genießen. Der Editor Daremberg war kein Kenner des Mittelhochdeutschen, und die Migne-Druckerei hat das Ihre dazu beigetragen, die Fehler zu vermehren. So ist z.B. nicht smalh zu lesen, sondern smalz, nicht augsmere, sondern anxsmere, nicht knicbeke, sondern kindsbethe. Aber dies nur nebenbei.)

Vergleichen wir nun Florenz (F), Wolfenbüttel (W), Paris (P) und Vatikan (V) hinsichtlich des deutschen Wortbestandes miteinander, so stellen wir fest, dass bereits die ältesten Textzeugen bisweilen das deutsche Element ausstoßen. Ich wähle als Beispiel 'Physica' II 16 'Vom Ölbaum'. V und P lesen: et si quis in corde, aut in dorso, aut in latere aut in lenden de gicht dolet (PL 197,1229C) ("und wenn jemand am Herzen oder am Rücken, an der Seite oder in den Lenden unter Gicht leidet ..."). F und W übersetzen die deutschen Wörter "Lenden" und "Gicht" ins Lateinische: Si quis ... in latere aut in renibus de paralisi dolet.

Hier setzt, zuerst zögernd, dann immer entschiedener eine Tendenz ein, die im frühneuzeitlichen Druck von 1533 ihren Abschluss findet: die Eliminierung der deutschen Bestandteile im Hildegardtext und deren Ersetzung durch lateinische Äquivalente. Diese Absetzbewegung ist bereits stark ausgeprägt im Steinbuch der Freiburger Handschrift: sorbiciuncula verdrängt suffen, pestilentia den schelmo, der fons saliens den quecbronnen, scobat mhd. schabe usf. Der Austauch wird nicht mit letzter Konsequenz durchgeführt: singelen "Funken sprühen" blieb ebenso erhalten wie ougswern "schwärende Wunde am Auge", aber in der Mehrzahl der Fälle ist bereits zum Lateinischen hin ausgeglichen.

Der Redaktor/Schreiber der Brüsseler Handschrift von ca. 1450 belässt die meisten deutschen Erklärungen, wohl weniger aus Prinzip als aus Trägheit - er hält sich an die Vorlage. Und doch sind auch bei ihm Ansätze zum Neuen erkennbar. Im Register zum 'Buch von den Bäumen' (fol. 39r) übersetzt er die deutschen Namen ins Lateinische: affoldra ("Apfelbaum") wird zu malus usf. Freilich hält sein Eifer nicht durch. In der zweiten Registerspalte lässt er von 15 Bäumen 9 unübersetzt darunter Erle, Ahorn, Eibe, Birke, für die durchaus lateinische Entsprechungen vorhanden gewesen wären.

 Nur wenige deutsche Wörter erlaubt sich dagegen der Straßburger Druck von 1533. In den 55 Kapiteln des III. Buches 'Von den Bäumen' finden sich gerade einmal 31 deutsche Wörter, von denen 15 offenkundig nur deswegen eingesetzt wurden, weil der Bearbeiter kein lateinisches Äquivalent kannte. Dies trifft insbesondere auf Pflanzennamen zu: rosseminzim ("Rossminze" III 8), nespelbaum ("Mispelbaum" III 14), beruurtz und pefferkraut ("Bärwurz" und "Breitblättrige Kresse" III 20), russesprumin (verlesen aus rosseprumen [F, W] "Rosspflaume" III 25), garchsleni (verlesen aus gartslehen/-sleen [F, W] "Gartenschlehe" III 25), krichim (krichen/criechen [F, W] "Pflaumenschlehe" III 25), erdpeffer ("Scharfes Sedum" III 29), uuinda ("Ackerwinde" III 29), storcken­schnabel ("Ruprechtskraut" III 30), bouuel (verlesen aus boumwel [F] "Baumwolle" III 34), gruz ("junge Sprossen" III 37), holderboum ("Holunder" III 48), meltzboum (verlesen aus bel-/belzboum [F, W] "Berberitze" III 49), hartboum (harboum [F, W] "Traubenkirsche"? III 51). Auch für manche Krankheitsbezeichnungen Hildegards waren dem Redaktor lateinische Entsprechungen nicht geläufig: uich ("krampfartige Beschwerden am Darmausgang" III 10), crampho ("Krampf" III 17), urslethe/urslethede (verlesen aus urslecte/-slechte [F, W] eine bestimmte Form von schwerem "Ausschlag" III 31), stechedum "(Magen)krampf III 43), freislichaz ("Hautflechte" III 50). Hinzu kommt hartz ("Harz" III 17). Nur in 10 Fällen gebraucht der Arrangeur des Straßburger Drucks einen deutschen Terminus, obwohl ihm der lateinische vertraut war: wildelachdete (verlesen aus wilde laticha [F und W] "wilder Lattich" III 9 - lactuca agrestis II 61), mulberboum ("Maulbeerbaum" - morus III 27), oesch ("Esche" - fraxinus III 37), hopfo ("Hopfen" III 37 - humulus II 74), ciclim ("Sprossen" III 48, unrichtig mit flores "Blüten" wiedergegeben); dumpfet ("unter Asthma leiden" III 32 - spiramen difficulter emittit et immittit II 106), hirn­uutich ("wahnsinnig" III 44 - freneticus III 32), gelesuocht ("Gelbsucht" - ictericia III 48 bzw. morbus regius II 39); halsadrin (am Hals befindliche "Drüsen" III 23 - glandes in collo II 36). Der Editor der 'Physica' in der Patrologia Latina, Daremberg, wurde durch diese Relatinisierung so verwirrt, dass er am Schluss des 'Liber de arboribus' aus der Straßburger Edition drei Kapitel abdruckte, von denen er glaubte, sie seien in dem ihm vorliegenden Codex Parisinus nicht enthalten: Deest in cod. ms., liest man in Anmerkung l zu Spalte 1247. In Wirklichkeit waren alle drei im Parisinus enthalten und auch von Daremberg selbst abgedruckt, nur eben unter den ursprünglichen deutschen Bezeichnungen dactilboum, forha, hifa, woraus im Frühdruck palma, picea und tribulus wurden.)

2. Die Deutung

Der Befund ist klar: Die deutschen Bezeichnungen und die Erläuterungen vom Typ febris id est fiber verschwinden mehr und mehr aus den hildegardschen 'Physica', um schließlich im Erstdruck einer fast reinen latinitas zu weichen. Wie ist dieser Befund zu deuten? Man könnte versucht sein, auf die vom Humanismus geprägte Kultur Straßburgs hinzuweisen, die Sprachmischung als barbarisch empfand, weshalb 'reinigend' eingegriffen werden musste. Dies mag wohl auch eine Rolle gespielt haben, erklärt jedoch nicht alles. Das Freiburger 'Steinbuch' vom Anfang des 15. Jahrhunderts steht gewiss noch nicht unter humanistischem Einfluss, zeigt aber ganz ausgeprägt dieselben Züge wie der Straßburger Druck. Gegen eine Humanismus-Interpretation des Phänomens sprechen ferner zwei weitere Gründe. Zum einen war auch in der mittellateinischen Stilistik Sprachmischung verpönt. Walalahfrid Strabo entschuldigte sich ausdrücklich dafür, dass er aus Sachgründen deutsche Wörter in einen lateinischen Text zu inserieren hatte. [4] Akzeptiert waren allenfalls - nach antikem Vorbild - griechische Wörter und Phrasen wie sie etwa Liutprand von Cremona reichlich in seinen Text einstreute. Der andere Grund: Naturkunde war kein Gegenstand, das die Humanisten interessierte - man denke an die verächtlichen Bemerkungen Petrarcas in 'De sui ipsius et multorum ignorantia'. [5] Naturkundewissen vermittelt keine echte Persönlichkeitsbildung - und sie verdient aus diesem Grunde auch nicht das Bemühen um die 'gute Sprache'. Was war es aber dann, was die geschilderte Tendenz in Gang setzte und beförderte?

Ich formuliere eine These: Es war das Bemühen um sachliche Richtigkeit und sprachliche Eindeutigkeit, Dinge, die man dem Latein eher zutraute als dem Deutschen. Nur in dieser Sprache ließ sich einigermaßen ein Konsens darüber herstellen, wovon man handelte. Zum einen, weil man sich auf dieselben Autoritäten stützen konnte, angefangen von Plinius, Solin, Isidor bis hin zu Aristoteles latinus; zum andern, weil die lateinische Sprache den Dialog mit Sachkundigen außerhalb der eigenen Sprachgrenzen ermöglichte. Wie sehr dagegen die Muttersprache Vieldeutigkeit erlaubte, lehrt uns ein Blick in die lateinisch-deutschen Wörterbücher des 14. und 15. Jahrhunderts, deren Material Diefenbach in seinem Glossarium latino-germanicum ausgewertet hat. [6] Schlagen wir dort beispielsweise (S. 10b) das Lemma acredula nach - das Wort erscheint u.a. in dem bekannten Vogelstimmengedicht CB 132 'Iam vernali tempore' -, dann finden wir als deutsche Entsprechungen: graßmuck, nachtegal, leriche, lepeler = pellicanus. Nehmen wir die im Mittellateinischen Wörterbuch [7] (Sp. 128f.) zitierten Glossen hinzu, erweitert sich das Spektrum noch um distilvinch ("Distelfink") und kra ("Krähe"). Dieses Vogelpassepartout ist nicht untypisch für das frühe und noch das beginnende Hochmittelalter, in dem das Hauptinteresse mehr den Wörtern als den Sachen galt, genauer: den lateinischen Wörtern, die irgendwie übersetzt werden mussten. Dafür bot man ein deutsches Äquivalent an, das die Vorstellung in die ungefähre Richtung des Gemeinten lenkte. Dem 15. Jahrhundert genügte dies "ungefähr" nicht mehr. Das Interesse ging weg von den Wörtern hin zu den Sachen selbst. Dieses Streben nach zuverlässigen Informationen bedarf aber, wie schon gesagt, einer sicheren Verständigungsgrundlage, und eine solche konnte das Deutsche nicht gewährleisten. (Noch Marzells Wörterbuch sieht sich gezwungen, die deutschen Pflanzennamen unter lateinischen Lemmata aufzuführen. [8] ) Es ist klar, dass sich mit dieser Forderung nach Genauigkeit das Spätmittelalter bereits in Richtung neuzeitliche Naturwissenschaft bewegt, freilich ohne diese bereits voll auszubilden: Noch beruhte der angestrebte Konsensus nicht auf nachprüfbarer Beobachtung, auf Experiment und Experimentbeschreibung, sondern auf Autoritätenbefragung, Autoritätenvergleich und (in Ansätzen) Autoritätenkritik. Dennoch war das Streben nach Eindeutigkeit und definitorischer Sicherheit ein entscheidender Schritt in Richtung Moderne.

Dass sich hier ein echter Epochenwandel anbahnt, beobachten wir z.B. auch in der Kunst. Man vergleiche etwa den 'Hasen' Albrecht Dürers oder sein 'Rhinocerus' mit den sehr ungefähren Tierabbildungen - speziell der Exoten - in den mittelalterlichen Darstellungen. Noch deutlicher wird dies in den Pflanzenbüchern des Spätmittelalters wie z.B. im 'Gart der Gesundheit' von 1485. Die für die therapeutische Wirkung der Heilpflanzen entscheidende Eindeutigkeit wird hier nicht durch den 'verlässlichen' lateinischen Terminus garantiert, sondern durch die Abbildung der Pflanze. Wenn es heißt: "Nimm Beinwell...", dann kann der Benutzer aus der Abbildung erkennen, wie Beinwell aussieht, und somit bei der Herstellung des Heilmittels Irrtümer und Verwechslungen vermeiden.

Diese Entwicklung freilich - ich muss mich wiederholen - setzte unabhängig von der humanistischen Bewegung ein und überdauerte sie zeitlich. Nicht, dass die geistigen Impulse, die von den renatae litterae ausgegangen sind, jemals abgestorben wären, aber der lateinische Humanismus, verstanden als die Schriften der Humanisten in lateinischer Sprache, verdämmerte (Deutschland ausgenommen) in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts und fand seine vitale Fortsetzung in den Nationalliteraturen, der italienischen, spanischen, portugiesischen, französichen und englischen Literatur.

Anders steht es mit dem Latein des Wissens und der Wissenschaft, das sich - gewissermaßen an der Humanismusbewegung vorbei - weiter hielt und weiter entwickelte. Natürlich wirkte sich die Schulung im humanistisch geprägten Gymnasium auf die Sprachbeherrschung, auf die Sicherheit im Gebrauch des Lateinischen, aus; auch die realkundlichen und die übrigen fachspezifischen Bücher sind nicht im Dunkelmänner-Latein geschrieben. Dennoch: Sie sind keine 'belles lettres', sondern Schriften der Information und des wissenschaftlichen Diskurses vorzüglich in den Bereichen Theologie, Philosophie, Philologie; Jurisprudenz, Medizin, Naturkunde/Naturwissenschaft. Die hier geltende Sprache ist die lateinische, wie in ganz Europa, so auch in Deutschland. Auch in dieser nachhumanistischen Neuzeit haben wir eine Germania latina, die ihren Teil zur europäischen Geistesgeschichte beigetragen hat - man denke etwa an Leibniz und Wolf - und ihrerseits durch die europäische Latinitas Anregungen empfing.

Die Einbeziehung des Fachschrifttums in die Humanismusdiskussion setzt freilich einen erweiterten Litereraturbegriff voraus, wie er sich für das Mittelalter und - im volksprachigen Bereich - auch für die Neuzeit durchgesetzt hat. (Ein sprechendes Beispiel hierfür ist das Programm der Bibliothek Deutsche Klassiker im suhrkamp-Verlag.) Im neulateinischen Bereich ist dies noch kaum der Fall. Die neulateinische Philologie ist vorwiegend damit befasst, die lateinische Lyrik, das reformatorische Schulspiel, das Jesuiten- und Benediktinerdrama und den lateinischen Roman zu erforschen, während die lateinische Fachprosa weitgehend den Fachgelehrten überlassen bleibt. Eine solche Arbeitsteilung ist legitim, doch sollte diese umfangreiche Literatur als Faktum der Kulturgeschichte stärker in Bewusstsein treten - und sie sollte als wichtiger Forschungsgegenstand der 'humanities' betrachtet werden. Solange die wissenschaftliche Welt eine lateinische war - noch ganz im 17. Jahrhundert, teilweise im 18. mit Ausläufern ins 19. - war auch die Germania latina europäisch integriert: Die deutschen Studenten konnten an jeder europäischen Universität ohne Sprachschwierigkeiten studieren, die deutschen Gelehrten konnten lesen, was in Krakau und Prag, in Padua und Bologna, in Paris, Montpellier, Salamanca, Oxford und Cambridge gedacht und geschrieben wurde, und sie konnten ihrerseits sich den Kollegen außerhalb des deutschen Sprachgebiets mitteilen. Wie es heute damit steht, ist bekannt. Im 18. Jahrhundert löst sich diese lateinische Sprach- und Denkgemeinschaft allmählich auf. Von da an gibt es dann auch eine italienische, iberische, englische, französische und deutsche Philosophie - im positiven wie im negativen Sinn. (Hätten Hegel, Schopenhauer und Nietzsche ihre Hauptwerke lateinisch schreiben müssen, wäre vielleicht manches weniger 'deutsch' ausgefallen.) Am längsten hielt sich das Lateinische in dem Bereich, von dem wir ausgegangen sind, im Bereich der Naturkunde. 1735 veröffentlichte Carolus Linnaeus auf lateinisch sein 'Systema naturae', die grundlegende Klassifikation der Pflanzen, Tiere und Mineralien, mit der sich bis heute nicht nur die Naturwissenschaftler, sondern auch die Gärtner verständigen, und an der Tübinger Universität wurden bis in die vierziger Jahre des 19. Jahrhunderts die medizinischen Dissertationen in lateinischer Sprache abgefasst.

3. Schlussfolgerungen

Und heute? Am hiesigen Institut für Deutsch als Fremdsprache sind Vorbereitungen im Gange, einen Grundkurs 'Latein' anzubieten, dessen Basistexte nicht die 'literarischen' Klassiker sein sollen, sondern die Klassiker der Sprachwissenschaft von Priscian über die Modisten bis hin zu J. C. Scaliger, Comenius und Leibniz. Auch die moderne Wissenschaft lebt nicht nur vom Englischen allein. Wenn heute, wie in nahezu allen Ländern zu beobachten, der Druck auf das Latein von unten (der Elternschaft) wie von oben (den Kultusministerien) zunimmt, sollte doch bedacht werden, dass mit dem Verlust der Latinitas die westliche Kulturgemeinschaft ein weiteres Band verliert.

Dieses Band müsste freilich etwas lockerer geknüpft werden, die Latinitas stärker instrumentalisiert werden, als dies bislang der Fall ist. Die geistige Anverwandlung der tiefsten Denker der klassischen Antike, wie sie der humboldtsche Humanismus anstrebte, ist für die heutige Schule wahrscheinlich ein zu hohes Ziel.

Die geringe Alphabetisierung Deutschlands um 1600, auf die Laetitia Boehm im Eröffnungvortrag hinwies, war mit eine Folge der hohen Ansprüche des protestantischen und des Jesuiten-Gymnasiums. Diese Elitebildung ging jedoch auf Kosten der Allgemeinbildung. Während im 15. und frühen 16. Jahrhundert die Schüler- und Studentenzahlen rapide zugenommen hatten, [9] "änderten sich die Verhältnisse sichtlich in Konsequenz der religiösen Revolution im Zusammenwirken auch mit den humanistischen Reformen, [...] verschlechterten sich die Verhältnisse des Lateinschulwesens. [...] Das (inzwischen vielfach wohl auch mit deutschem Unterricht verbundene) Lateinschulwesen wurde zurückgedrängt, die Teilhabe ländlicher Gemeinden an der 'Bildungsexplosion' wurde erschwert." [10] Der Lateinunterricht, den man an den Lateinschulen der spätmittelalterlichen Kleinstädte und Märkte erteilte, war nicht sehr niveauvoll, aber die Kinder lernten lesen und schreiben, den Grundwortschatz und die strenge Zucht der lateinischen Syntax. Nur diese relativ breite Alphabetisierung erklärt die Riesenauflagen der Luther-Bibel. Unsere Alphabetisierung erfolgt in der Muttersprache, unsere Lateinschulen zielen auf das Verstehen der großen Autoren der klassischen Antike. Diese Ausrichtung ist heute in die Krise geraten. Manfred Fuhrmann, emeritierter Lateinprofessor an der Universität Konstanz, hat das Ende des Humanismus humboldtscher Prägung in unserem kulturellen Bewußtsein festgestellt. [11] Dem mag so sein, aber das muss nicht heißen, dass man künftige Generationen gänzlich des Lateins entwöhnen müsse. Wie das 'praktisch-kommunikative' Latein dem 'ästhetischen' Latein der Humanisten voranging, es begleitete und überdauerte, kann es auch heute nach dem Verblassen des humanistischen Bildungsideals doch weiterhin Mittel humaner Kommunikation bleiben. Ich meine damit nicht orale Kommunikation gleich lateinischer Sprechfähigkeit, sondern das begriffliche Sichverständigen auf der Basis des lateinischen Wortschatzes und der lateinischen Sprach- und Denkstrukturen, die mit zu den Grundlagen der westlichen Gesellschaft gehören und diese Gesellschaft bis heute tragen.



[1] Herzog-August-Bibl., 56.2 Aug. 4o.

[2] Bibl. Mediceo-Laurenziana, Ashburnham 1323.

[3] PHYSICA S. HILDEGARDIS. Elementorum, Fluminum aliquot Germaniae, Metallorum, Leguminum, Fructuum, & Herbarum: Arborum, & Arbustorum: Piscium denique, Volatilium, & Animantium terrae naturas & operationes. IIII. Libris mirabili experientia posteritati tradens. [...] ARGENTORATI apud Ioannem Schottum, cum Caes. Maiest. priuilegio ad Quinquennium. M.D.XXXIII.

[4] Libellus de exordiis et incrementis quarundam in observationibus ecclesiasticis rerum, cap. 7 Quomodo theotisce domus Dei dicatur (ed. Alice L. Harting-Correa, Leiden - New York - Köln 1996 [Mittellat. Studien u. Texte, 19], hier S. 70 Z. 4-13): >Dicam tamen etiam secundum nostram barbariem, quae est Theotisca, quo nomine eadem domus Dei appelletur, ridiculo futurus Latinis, si qui forte haec legerint, qui velim simiarum informes natos inter augustorum liberos computare. [...] Legant ergo nostri et sicut religione, sic quoque rationabili locutione nos in multis veram imitari Grecorum et Romanorum intellegant philosophiam.

[5] Kap. 2 (hg. u. eingel. v. August Buck, übers. v. Klaus Kubusch, Hamburg 1993 [Philosoph. Bibliothek, 455], hier S. 22): Que quidem [scil. die Aussagen der Naturkundeenzyklopädien] vel magna ex parte falsa sunt [...] vel certe ipsis auctoribus incomperta, sed propter absentiam vel credita promptius vel ficta licentius; que denique, quamvis vera essent, nichil penitus ad beatam vitam. Nam quid, oro, naturas beluarum et volucrum et piscium et serpentum nosse profuerit, et naturam hominum, ad quod nati sumus, unde et quo pergimus, vel nescire vel spernere?

[6] Lorenz Diefenbach, Glossarium latino-germanicum mediae et infimae aetatis, Frankfurt a. M. 1857 (Nachdr. Darmstadt 1997).

[7] Mittellateinisches Wörterbuch bis zum ausgehenden 13. Jahrhundert [...] hg. v. d. Bayer. Akad. der Wissensch. u. d. Dt. Akad. der Wissensch. zu Berlin, Bd. I, München 1967.

[8] Heinrich Marzell, Wörterbuch der deutschen Pflanzennamen, Bd. I-V, Leipzig 1943-1958 (Nachdr. Köln 2000).

[9] So lassen sich z.B. im Raum zwischen Donau und Main bis zum Jahr 1520 nicht weniger als 181 Schulstandorte nachweisen. "In Franken und in der Kur­oberpfalz war 1520 ein schulisches Angebot für mindestens zwei Drittel seiner potentiellen Schülerschaft vorhanden." (Reinhard Jakob, Schulen in Franken und in der Kuroberpfalz 1250-1520. Verbreitung - Organisation - Gesellschaftliche Bedeutung, Wiesbaden 1994 [Wissensliteratur im Mittelalter, 16], S. 63 und 69).

[10] Laetitia Boehm, Zusammenfassung, in: Harald Dickerhof (Hg.), Bildungs- und schulgeschichtliche Studien zu Spätmittelalter, Reformation und konfenssionellem Zeitalter, Wiesbaden 1994 (Wissensliteratur im Mittelalter, 19), S. 303-307, hier S. 305f.

[11] Der europäische Bildungskanon des bürgerlichen Zeitalters, Frankfurt a. M. - Leipzig 1999.



Autor (author): Konrad Benedikt Vollmann
Dokument erstellt (document created): 2002-08-13
Dokument geändert (last update): 2002-08-20
WWW-Redaktion (conversion into HTML): Manuela Kahle & Stephan Halder